2016
Belletristik
Verlag: Pendragon
320
3865325521
Inhaltsangabe:
München 1995: Anelija wurde in Bulgarien geboren und von ihrer Großmutter und Urgroßmutter aufgezogen, seit die Mutter in den Westen geflohen war. Im Alter von knapp 17 Jahren gelang ihr selbst die Flucht nach Deutschland.
Inzwischen ist der Eiserne Vorhang gefallen und Reisen in die ehemaligen Ostblock-Staaten sind ohne weiteres möglich. Gemeinsam mit ihrem Freund Enno fährt sie nun in ihre alte Heimat zurück und sie beginnt sich zu erinnern, wie ihr Leben einst war: ärmlich, schmutzig und demütigend durch das Regime von Schiwkow, der in Anelija den neuen Menschen des Sozialismus gesehen hatte.
Und Anelija erinnert sich auch, was sie fühlte, wenn die selten Briefe der Mutter aus Deutschland eintrafen: Sauberes Papier – sie roch der Duft nach Weiss.
Mein Fazit:
Mein großer Dank geht an die Autorin Stefanie Gregg, die mir mit diesem Buch einen kleinen Einblick in unsere europäische Geschichte gewährte.
Es gibt zwei Geschichten in diesem Buch, die auf dem ersten Blick nur eine Gemeinsamkeit haben: Bulgarien. Die erste beginnt 1995, als Anelija ihrem Freund Enno in sehr emotionalen Rücklicken von ihrem Leben im kommunistischen Land erzählt. Ihre Mutter hat sie viel zu früh bekommen – mit 17 Jahren. Der Vater ist unbekannt. Von Anfang an hat die Großmutter sie aufgezogen und als Anelija fünf Jahre alt ist, flüchtet die Mutter nach Deutschland.
Anelija kommt in die Schule, muss sich wegen ihrer unklaren Herkunft Hänseleien gefallen lassen. Auch die ärmlichen Verhältnisse machen dem Mädchen manchmal zu schaffen, dennoch liebt sie ihre Familie und arbeitet überall mit, wo ihre Hilfe gebraucht wird. Als sie schließlich aufs Gymnasium kommt, wird sie mehr und mehr mit dem System konfrontiert, wo Andersdenkende ihre Gedanken nicht laut aussprechen dürfen und wo jeder Flüchtling als Staatsfeind betrachtet wird. Je mehr sie über das System erfährt, desto größer wird ihr Wunsch nach Freiheit – alles aussprechen zu dürfen, was man denkt; den Beruf zu ergreifen, den man sich wünscht; reisen ohne Beschränkungen und Genehmigungen. Sie wird schon kritisch beäugt, nur weil sie mit viel Eifer deutsch sprechen lernt. Sie lernt zu schweigen – wie viele andere Bulgaren auch. Einzig die Liebe zu Büchern hilft ihr, die Sprachlosigkeit zu überwinden. Mir fällt dazu folgendes Zitat ein (Seite 121):
„Diese Worte, die für andere sinnlos waren, wurden für mich zu einer Sprache ohne Fragezeichen. Wenn ich diese Worte las, konnte ich wieder den Sinn meiner Träume entschlüsseln. Es war die Zeit, in der mir klar wurde, dass Worte mir alles bedeuteten.“
Der andere Erzählstrang, der in eher kleinen Abschnitten erzählt wird, ist die wahre Geschichte des Schriftstellers Georgi Markow, der sich in seinen Werken eher regimekritisch äußerte und sich bald gezwungen sah, aus Bulgarien nach Italien und dann schließlich nach London zu fliehen. Er konnte bei der BBC als Journalist anheuern und tat das Unglaubliche: Im Radio verhöhnte er Schiwkow und das System und ganz Bulgarien konnte es heimlich hören. Somit gibt Schiwkow seinen Mord in Auftrag – mit einem präparierten Regenschirm.
Ich konnte mich kaum von dem Buch lösen und bei den wenigen Pausen schweiften meine Gedanken zu Anelija und ihren beiden Babas ab. Sie führten ein karges, aber doch zufriedenes Leben. Und doch konnte ich Anelijas Sehnsucht nach dem Duft nach Weiss sehr gut nachvollziehen. Verhieß es doch Sauberkeit, Freiheit und grenzenlose Möglichkeiten.
Beide Geschichten sind fesselnd und ohne Schnörkeleien beschrieben. Der Schreibstil ist angenehm und die abwechselnden Abschnitte waren für mich genau richtig portioniert. Die Personen konnte ich mir gut vorstellen, sie waren für mich greifbar, als säßen sie neben mir und würden mir ihre Geschichte von Angesicht zu Angesicht erzählen. Das passiert auch nicht oft. Und es gibt tiefe Einblicke in ein System, das zutiefst menschenverachtend ist.
Ein sehr bewegendes Buch – von mir eine klare Lese-Empfehlung mit fünf Sternen.
Veröffentlicht am 31.07.16!
Liebe Elke, ♥
sehr interessante und neugierig machende Rezi! Vom Thema wär das ja eigentlich gar nicht meins, aber du hast es so schön beschrieben, dass man doch große Lust auf die Geschichte bekommt. Vielleicht läuft mir ja das Buch mal über den Weg 😉
Liebe Grüße von Conny
Ich wäre wirklich gespannt auf Deine Meinung. Ich glaube, das Buch erschien schon mal früher! Müsstest mal schauen unter dem Titel “Der Duft nach Weiss”.